Freitag, 19. Dezember 2014

"Strong is the new anorexic?" - Vielleicht sollte man beim Thema Sixpack manchmal auch einfach nur an Bier denken!?

Während andere Plätzchen naschen und sich mit Freunden zu Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt treffen, gehe ich brav viermal die Woche zum Training und habe ein schlechtes Gewissen, weil ich meinen After-Workout-Protein-Shake ausnahmsweise mal mit Milch angerührt habe, damit er nicht ganz so stark nach Mehl schmeckt… Aber Glühwein? Alkohol und Zucker!? Geht gar nicht! Das wirft mich sicherlich meilenweit zurück in meinem Vorhaben, irgendwann den perfekt durchtrainierten Körper zu haben. Fraglich ist nur, ob ich damit einem Schönheitsideal hinterher hetze, das ich ohnehin nie erreichen werde. Aber irgendwie gibt mir meine eigene Disziplin ein Gefühl von Kontrolle, Perfektion, Stolz. Und während ich meinen Gedanken so zuhöre, stelle ich fest, dass ich genau dem Wahn unterliege, den man Magersüchtigen nachsagt. Verdammt!

In den 90ern war es das große Ziel, dünn zu sein. Den Begriff „skinny fat“ gab es aber noch genau so wenig wie „size zero“ - zumindest nicht bei uns in der provinziellen Kleinstadt. Solange man in eine Levi’s 501 mit einer maximalen Weite von 28 Inch gepasst hat, war alles gut. Ich hatte 26! Auch die Pille, die ersten Bierchen, regelmäßige McDonalds-Besuche nach 23 Uhr und der Besitz eines Führerscheins samt Auto konnte mein Stoffwechsel erst mal noch ganz gut ab. Da hat sich mein Körper noch über die Glutamat-Nudelsnacks zwischendurch gefreut, weil sie im Gegensatz zu Pommes, Chips und Schokolade wenigstens noch ein paar künstlich zugesetzte Vitamine hatten. Und obwohl zu dieser Zeit bereits die ersten Gegenbewegungen gegen den Magerwahn laut wurden, wollte ich von 28 wieder zurück zu 26 Inch und begann mit der ersten Diät. Und damit nahm ein bis heute nicht endender Wahn seinen Lauf. Ich habe mittlerweile jegliches Gespür für Hunger oder Sättigung verloren. Was es wann und in welcher Menge zu essen gibt, hängt in erster Linie von der Kalorienbilanz, der Nährstoffzusammensetzung und dem Zeitpunkt des letzten und nächsten Trainings ab. Wirklich „dünn“ wurde ich trotzdem nicht mehr. Verdammt!

Was für ein Glück für mich, dass wir nun auf ein neues Schönheitsideal zusteuern: "Strong is the new sexy"! Eine neue Generation Frauen taucht am Horizont auf und hat auf einmal klar definierte Oberarme und einen Waschbrettbauch, an dem man selbst die dreckigste Wäsche makellos sauber bekommen würde. Wir reden hier nicht mehr von den Bodybuilderinnen aus den späten 80ern, denen ungeachtet ihrer Disziplin bis heute vorgeworfen wird, dass sie nichts als Männer mit geschmacklosen Lidschatten gewesen wären. Wir reden von supersexy Pumper-Mäusen, die emanzipiert genug sind, um den Freihantelbereich in der Muckibude aufzumischen und danach dennoch mit ihren weiblichen Reizen spielen, indem sie sich lasziv in Unterwäsche und Nike-Free-Sneakers in den Fitnesszeitschriften dieser Welt räkeln. Danke Mädels, dass ihr uns endlich vom Magerwahn befreit, weil ihr zu Euren durchaus voluminösen aber natürlich perfekt durchtrainierten und dellenfreien Hintern steht und Bilder bei Facebook postet, die Unterschriften wie „this is why I squat“ oder Lebensweisheiten á la „Ich bin wie ich bin und das ist gut so!“ tragen. Das ist doch mal ein Wort. So will ich sein, das kann ich schaffen. Dünn war gestern, ich werde jetzt stark. Her mit dem Bizeps. Wohooooo!

Verdammt! Über meinem stahlharten Obliquus internus abdominis hält sich nämlich recht hartnäckig so eine kleine Fettschicht. Kein Problem eigentlich. Man sagt mir, das sei doch ganz normal für eine Frau in meinem Alter und passt doch ganz gut zum Rest meines Körpers. Normal für eine Frau in meinem Alter?? F.O.A.D!!! Ich trage konsequent irgendwas zwischen Größe 36, Small und 38 und wenn ich mir meine Mutter so ansehe, sind wir nicht zum Dicksein veranlagt, eher so normal. Aber schon wieder verdammt! Normal ist nicht super-strong-sexy genug. Also trainiere ich noch härter, esse noch cleaner, zähle noch konsequenter Kalorien. Klappt nicht – ich werde rückfällig und backe Triple-Chocolate-Brownies und Lebkuchen, weil mich allein der Duft von warmer Schokolade und Zimt in meiner Küche so glücklich macht. Lowcarb natürlich, ist gesünder. Aus Angst, zu viele davon zu essen, verschenke ich sie. Ich bin ein guter Mensch, ich backe für meine Mitmenschen. Sollen die doch fett werden, ich werde „strong und sexy“ wenn es schon mit dem „skinny“ trotz 15-jähriger Diät-Karriere nicht geklappt hat. Dass dieses „strong“ tatsächlich das „new skinny“ ist – und zwar mit allen psychosozialen Konsequenzen – ist dann wohl mal die traurige Wahrheit. Es gibt nur leider ein Problem: Während die Magersucht in der Öffentlichkeit oft auf Entsetzen, Mitleid und Therapeuten trifft, bringt einem der neue Muskelwahn häufig Respekt und Bewunderung ein. Immerhin beweist ein durchtrainierter Körper einen gesunden Lebensstil, der von Disziplin und detailliertem ernährungs- und trainingsspezifischem Wissen zeugt. Verdammt!

Zum Glück haben die Psychologen dieser Welt schon ein Wort erfunden: Orthorexie nennen sie den Gesundheitsfanatismus, hinter dem sich viele verstecken, die man früher noch als essgestört in eine Klinik gesteckt hat. Packt man noch eine ordentliche Portion einer worin auch immer begründeten narzisstischen Persönlichkeitsstörung hinzu, ist man am oberen Extrem der „strong is the new sexy“ Bewegung angelangt. Die Frage ist nur, wo der Übergang von Normalität zur Krankheit ist und wie man das behandeln wird. Schlüssige Konzepte haben die schlauen Psychologen dazu noch nicht wirklich. So viele Brownies futtern, bis der Sixpack einem kleinen Speckbäuchlein weicht und man sich dann vom Internisten wieder anhören kann, dass das viszerale Fett einen umbringen wird? Ich habe noch keine Lösung, aber vielleicht fange ich einfach mal damit an, mein Eiweißpulver in ein schönes kühles Bierchen zu rühren. Das ist immerhin irgendwie isotonisch und wenn ich noch fünf mehr davon in den Kühlschrank packe, habe ich auch einen Sixpack! Endlich…

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