In den 90ern war es das große Ziel, dünn zu sein. Den
Begriff „skinny fat“ gab es aber noch genau so wenig wie „size zero“ - zumindest nicht bei uns in der provinziellen Kleinstadt. Solange man in
eine Levi’s 501 mit einer maximalen Weite von 28 Inch gepasst hat, war alles
gut. Ich hatte 26! Auch die Pille, die ersten Bierchen, regelmäßige McDonalds-Besuche
nach 23 Uhr und der Besitz eines Führerscheins samt Auto konnte mein
Stoffwechsel erst mal noch ganz gut ab. Da hat sich mein Körper noch über die
Glutamat-Nudelsnacks zwischendurch
gefreut, weil sie im Gegensatz zu Pommes, Chips und Schokolade wenigstens noch
ein paar künstlich zugesetzte Vitamine hatten. Und obwohl zu dieser Zeit bereits die ersten Gegenbewegungen gegen den Magerwahn
laut wurden, wollte ich von 28 wieder
zurück zu 26 Inch und begann mit der ersten Diät. Und damit nahm ein bis heute
nicht endender Wahn seinen Lauf. Ich habe mittlerweile jegliches Gespür für
Hunger oder Sättigung verloren. Was es wann und in welcher Menge zu essen gibt, hängt in erster Linie
von der Kalorienbilanz, der Nährstoffzusammensetzung und dem Zeitpunkt des
letzten und nächsten Trainings ab. Wirklich „dünn“ wurde ich trotzdem nicht
mehr. Verdammt!
Was für ein Glück für mich, dass wir nun auf ein neues Schönheitsideal
zusteuern: "Strong is the new sexy"! Eine neue Generation Frauen taucht am
Horizont auf und hat auf einmal klar definierte Oberarme und einen Waschbrettbauch,
an dem man selbst die dreckigste Wäsche makellos sauber bekommen würde. Wir
reden hier nicht mehr von den Bodybuilderinnen aus den späten 80ern, denen ungeachtet ihrer Disziplin bis heute vorgeworfen wird, dass sie nichts
als Männer mit geschmacklosen Lidschatten gewesen wären. Wir reden von supersexy
Pumper-Mäusen, die emanzipiert genug sind, um den Freihantelbereich in der
Muckibude aufzumischen und danach dennoch mit ihren weiblichen Reizen spielen,
indem sie sich lasziv in Unterwäsche und Nike-Free-Sneakers in den
Fitnesszeitschriften dieser Welt räkeln. Danke Mädels, dass ihr uns endlich vom
Magerwahn befreit, weil ihr zu Euren durchaus voluminösen aber natürlich perfekt
durchtrainierten und dellenfreien Hintern steht und Bilder bei Facebook postet,
die Unterschriften wie „this is why I squat“ oder Lebensweisheiten á la „Ich
bin wie ich bin und das ist gut so!“ tragen. Das ist doch mal ein Wort. So will
ich sein, das kann ich schaffen. Dünn war gestern, ich werde jetzt stark. Her
mit dem Bizeps. Wohooooo!
Verdammt! Über meinem stahlharten Obliquus internus
abdominis hält sich nämlich recht hartnäckig so eine kleine Fettschicht. Kein
Problem eigentlich. Man sagt mir, das sei doch ganz normal für eine Frau in
meinem Alter und passt doch ganz gut zum Rest meines Körpers. Normal für eine Frau in meinem Alter?? F.O.A.D!!! Ich trage
konsequent irgendwas zwischen Größe 36, Small und 38 und wenn ich mir meine
Mutter so ansehe, sind wir nicht zum Dicksein veranlagt, eher so normal. Aber schon
wieder verdammt! Normal ist nicht super-strong-sexy genug. Also trainiere ich noch
härter, esse noch cleaner, zähle noch konsequenter Kalorien. Klappt nicht – ich
werde rückfällig und backe Triple-Chocolate-Brownies und Lebkuchen, weil mich
allein der Duft von warmer Schokolade und Zimt in meiner Küche so glücklich macht. Lowcarb
natürlich, ist gesünder. Aus Angst, zu viele davon zu essen, verschenke ich
sie. Ich bin ein guter Mensch, ich backe für meine Mitmenschen. Sollen die doch
fett werden, ich werde „strong und sexy“ wenn es schon mit dem „skinny“ trotz
15-jähriger Diät-Karriere nicht geklappt hat. Dass dieses „strong“ tatsächlich das „new
skinny“ ist – und zwar mit allen psychosozialen Konsequenzen – ist dann wohl mal die traurige Wahrheit. Es
gibt nur leider ein Problem: Während die Magersucht in der Öffentlichkeit oft
auf Entsetzen, Mitleid und Therapeuten trifft, bringt einem der neue Muskelwahn
häufig Respekt und Bewunderung ein. Immerhin beweist ein durchtrainierter
Körper einen gesunden Lebensstil, der von Disziplin und detailliertem ernährungs-
und trainingsspezifischem Wissen zeugt. Verdammt!
Zum Glück haben die Psychologen dieser Welt schon ein Wort
erfunden: Orthorexie nennen sie den Gesundheitsfanatismus, hinter dem sich
viele verstecken, die man früher noch als essgestört in eine Klinik gesteckt
hat. Packt man noch eine ordentliche Portion einer worin auch immer begründeten
narzisstischen Persönlichkeitsstörung hinzu, ist man am oberen Extrem der „strong
is the new sexy“ Bewegung angelangt. Die Frage ist nur, wo der Übergang von
Normalität zur Krankheit ist und wie man das behandeln wird. Schlüssige Konzepte
haben die schlauen Psychologen dazu noch nicht wirklich. So viele Brownies
futtern, bis der Sixpack einem kleinen Speckbäuchlein weicht und man sich dann
vom Internisten wieder anhören kann, dass das viszerale Fett einen umbringen
wird? Ich habe noch keine Lösung, aber vielleicht fange ich einfach mal damit
an, mein Eiweißpulver in ein schönes kühles Bierchen zu rühren. Das ist immerhin
irgendwie isotonisch und wenn ich noch fünf mehr davon in den Kühlschrank
packe, habe ich auch einen Sixpack! Endlich…
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